Verkannte „Mauerblümchen“: Flechten

Jeder hat schon mal welche gesehen, aber kaum jemand schenkt ihnen groß Beachtung. Flechten kennt man vor allem als Bewuchs von Baumrinde; sie gedeihen aber auch auf Totholz, Mauern, Felsen oder Pflastersteinen.

Bis vor Kurzem waren auch für mich Flechten wenig interessant. Doch völlig zu Unrecht! Auf einem Spaziergang im Arboretum II  sprang mir unvermutet auf einem modrigen Stamm diese faszinierende Miniaturwelt ins Auge (s. Foto Scharlachflechte). Für mich der entscheidende Impuls, tiefer ins Thema Flechten einzutauchen.

Finger-Scharlachflechte Cladonia digitata mit Fruchtkörpern (Apothecien)
Auf den Resten eines alten Baumstamms sprießt die Finger-Scharlachflechte (Cladonia digitata). Die scharlachrotgefärbten Teile sind Fruchtkörper (Apothecien). Die einzelnen „Finger“ sind 0,2–0,6 mm lang.

Was genau sind eigentlich Flechten?

Die Antwort auf diese Frage ist komplexer als vermutet. Flechten sind nämlich keineswegs Pflanzen, wie man denken könnte. Vielmehr sind Flechten stets eine Gemeinschaft (Symbiose) aus zwei verschiedenen Organismen. Eine Flechte besteht

  • entweder aus einem Pilz + Alge
  • oder aus  einem Pilz + Cyanobakterien (landläufig als „Blaualgen“ bezeichnet).

Das Zusammenleben hat für jeden der beiden Organismen Vorteile. Der Pilz nimmt Wasser und Mineralstoffe aus der Umgebung auf, kann aber mangels Chlorophyll  keine Fotosynthese betreiben. Diesen Part übernimmt die Alge. Sie produziert Zucker für sich und den Pilz. Im Gegenzug gelangt die Alge über den Pilz an Wasser und Mineralstoffe, was sie allein nicht könnte, da sie über keine Wurzeln verfügt. In ähnlicher Weise funktioniert die Verbindung Pilz + Cyanobakterien.

Botanisch gesehen zählen die Flechten (Lichenes) zu den Pilzen (Fungi). Nach der äußeren Gestalt unterscheidet man Blatt-, Strauch- und Krustenflechten.

Sind Flechten für Bäume schädlich?

Nein. Flechten sitzen nur locker auf der Rinde auf, sie benutzen den Baum nur als Unterlage.

Gelbflechte Xanthoria parietina
Gewöhnliche Gelbflechte (Xanthoria parietina) mit senfgelben schalenförmigen Fruchtkörpern. Die Gelbflechte zählt zu den Blattflechten.

Flechten als Bodenpioniere

Durch den Zusammenschluss als Flechte können sich Pilz und Algen Lebensräume erschließen, an denen sie ohne ihren Partner nicht existieren könnten. Darunter sind zT. auch extreme Standorte. Beispielsweise gehören Flechten zu den Pionieren bei der Besiedlung von nacktem Fels. Durch die Erzeugung spezieller Säuren sind Flechten in der Lage, Gesteine zu zersetzen. Damit tragen sie zur Bodenbildung bei.

(Krusten-)Flechte auf einem Stein im Botanischen Garten.

Flechten und Schadstoffe

Gegenüber Schadstoffen aus der Luft sind Flechten sehr anfällig. Denn anders als Pflanzen haben sie keine Möglichkeit, Schadstoffe auszuscheiden.  Eine Regeneration der Flechten ist dadurch nicht möglich. Schadstoffe sammeln sich allmählich in der Flechte an; wird die Konzentration zu hoch, stirbt die Flechte ab.

Flechten als Bioindikator für Umweltverschmutzung

Neben den Nährstoffen nehmen die Flechten gleichermaßen auch Schadstoffe ungefiltert aus der Luft auf. Da sie schädliche Substanzen nicht ausscheiden können, sind Flechten aussagekräftige Bioindikatoren, wenn es darum geht, den Grad der Umweltverschmutzung (speziell mit Schwefeldioxid und Schwermetallen) am betreffenden Standort festzustellen.

Es ist bezeichnend, dass sich in der Innenstadt kaum Flechtenbewuchs entdecken lässt: Die Luft ist einfach zu stark mit Schadstoffen belastet.

Zur Überwachung von radioaktivem Niederschlag nach atmosphärischen Kernwaffentests lassen sich Flechten ebenfalls heranziehen, da sie auch radioaktive Partikel speichern.

Gelbflechte
Üppig mit Gelbflechte bewachsene Eberesche.

Die Gelbflechte als Zeigerpflanze für hohen Stickstoffgehalt

Am bekanntesten bei uns ist wohl die Gewöhnliche Gelbflechte (Xanthoria parietina). Sie bildet bis zu 10 cm große Rosetten aus. Sehr häufig wächst sie auf der Rinde von alten Obstbäumen, aber auch auf anderen Laubbäumen.

Ihre Art profitiert von einem hohen Stickstoffgehalt der Luft. Daher ist sie bevorzugt an stark gedüngten Orten anzutreffen. Algenpartner der Gelbflechte sind Grünalgen. Die Gelbflechte ist fast in ganz Europa verbreitet, darüber hinaus in N-Amerika, Asien, Afrika und Australien.

Strauchflechte
Beispiel für eine Strauchflechte auf einem Obstbaum.

Flechten als Lebensraum

Flechten dienen den Raupen verschiedener Flechtenbärchen (kleine Schmetterlinge) als Nahrung. Daneben finden Schnecken, Insekten, Milben und Bärtierchen hier Nahrung bzw. Unterschlupf.

Blattflechten
Verschiedene Blattflechten.

Zum Nach- und Weiterlesen:

Sehr ausführlich, mit den neuesten Erkenntnissen zum Thema Flechten: Merlin Sheldrake: „Verwobenes Leben“, 4. Aufl. 2022, Kap. 3, S. 109–143.

Wikipedia: „Xanthoria parietina“ (Gelbflechte), Stand vom 18.7.2022; Zugriff: 7.2.2023.

Umfassender Artikel „Flechten“ im Online-Lexikon „Garten-Treffpunkt“.

Volker Wirth et al.: „Ulmers Taschenatlas Flechten und Moose – 290 Arten schnell erkennen“, 2. Aufl. 2018.