Wer in den Wintermonaten aufmerksam durch die städtischen Grünanlagen geht, trifft unweigerlich auf sie – die Mistel. Solange die Bäume grün sind, bleibt die Mistel im Blattwerk verborgen. Nach dem Laubfall aber lassen sich die Misteln leicht entdecken. Nicht selten sind einzelne Bäume von zahllosen Exemplaren besiedelt.
Die Weißbeerige Mistel (Viscum album) ist eine Profiteurin des Klimawandels. Seit etwa dreißig Jahren lässt sich eine zunehmende Verbreitung der Misteln beobachten. Betroffen sind vor allem innerstädtische Parks und Grünanlagen. Denn hier treffen die Misteln vermehrt auf Bäume, die v.a. durch lange Trockenperioden und negative Umweltbedingungen geschwächt sind. Diese vorgeschädigten Bäume haben dem Angriff der Misteln nichts entgegenzusetzen.
Wie kommt die Mistel auf den Baum?
Die Beeren der Mistel werden gerne von Vögeln gefressen, denn unter der festen äußeren Fruchthülle ist ein süßlicher Schleim enthalten. Gleichzeitig ist diese glibberige Masse auch sehr klebrig. Wenn also Vögel die Beeren verzehren, bleiben oft klebrige Reste am Schnabel hängen, die die Tiere dann zusammen mit den darin enthaltenen Samen an den Ästen abstreifen.
Die andere Möglichkeit ist, dass die Samen zusammen mit dem Kot der Vögel auf dem Wirtsbaum landen. Der zähe Schleim wird beim Verdauungsvorgang nicht völlig abgebaut, sodass auch die ausgeschiedenen Samen problemlos auf den Ästen haften.
Das Bild zeigt, welch zähe Fäden der klebrige Schleim zieht, von dem die Samen umgeben sind. Der lateinische Gattungsname „viscum“ (= „Leim“) zielt auf diese enorme Klebrigkeit. Das Wort „viscum“ steckt u.a. auch in dem Begriff „Viskosität“, mit dem die Zähflüssigkeit einer Flüssigkeit beschrieben wird.
Keimung und Wachstum
Einmal auf dem Wirtsbaum angekommen beginnen die Samen zu keimen und in den Ast einzuwachsen. Dabei bildet sich zunächst eine Art Haftscheibe, durch die der Same endgültig fest am Ast verankert wird. Im nächsten Schritt beginnt eine keilförmige Saugwurzel (Primärsenker) zu wachsen.
Die Saugwurzel durchstößt zuerst die Rinde und dringt dann langsam, aber zielstrebig durch das Holz bis zu den Leitbahnen des Asts vor, die ihn mit Wasser und Mineralstoffen versorgen. Aus dieser Quelle versorgt sich nun auch die angehende Mistel. Nach und nach bildet sie entlang der Leitbahnen weitere „Zapfstellen“ aus. Auf diese Weise gut genährt ist die junge Mistel rasch in der Lage, Blätter und Blüten zu entwickeln.
Sobald sie Blätter entwickelt hat, kann die Mistel selbst Photosynthese betreiben und tut dies auch; Wasser und Mineralstoffe bezieht sie aber weiterhin von ihrem Wirtsbaum. Sie ist somit ein Halbschmarotzer.
Abwehrstrategien des Baumes
Ein vitaler Baum ist durchaus in der Lage, die lästigen Schmarotzer zu bekämpfen. Das Mittel der Wahl heißt „Überwallung“, d.h. übermäßige Wucherung des Holzes, um der Saugwurzel das Vordringen zu den Leitbahnen zu erschweren bzw. unmöglich zu machen. Da es etwa ein Jahr dauert, bis sich die heranwachsende Saugwurzel ihren Weg durch das Holz zu den Leitbahnen gebohrt hat, bleibt dem angehenden Wirtsbaum einige Zeit, um gegen den unwillkommenen Ankömmling vorzugehen. Neben dem Mittel der Überwallung kämpft ein gesunder Baum auch mit vermehrter Harzabsonderung gegen den Mistelbefall.
Normalerweise bringt ein moderater oder auch ein stärkerer Mistelbefall den Wirtsbaum nicht um. Aber bei einem schon vorgeschädigten Baum, Trockenstress oder Nährstoffknappheit trägt ein ausgeprägter Mistelbefall natürlich zur weiteren Schwächung des Wirtsbaums bei. Dann kann es zum Absterben von ganzen Ästen oder auch im äußersten Fall zum Absterben des ganzen Baumes kommen.
Mistelarten
Von der europäischen Mistel gibt es drei Arten. Die häufigste ist die eben beschriebene Laubholzmistel, die verschiedene Laubbäume befällt (Birken, Pappeln, Ahorne, Apfelbäume …).
Wählerischer sind dagegen Tannen- und Kiefernmistel; sie beschränken sich auf die namensgebenden Nadelhölzer.
Übrigens: Einige Baumarten gelten als „mistelfest“, wie z.B. Platanen, Rotbuchen, Kirschen, Walnuss, Ginkgo. Auf diesen Bäumen gelingt es der Mistel nicht, sich anzusiedeln.
Weibliche und männliche Misteln
Die Mistel ist zweihäusig. Dh., es gibt weibliche und männliche Exemplare. Letztere sind seltener und sind von eher gelbgrüner Farbe.
Die Früchte
Die weißen Scheinbeeren, die nur auf den weiblichen Exemplaren zu finden sind, reifen im November/Dezember. Sie werden von vielen Vögeln gerne gefressen, z. B. von Staren, Drosseln und Seidenschwänzen, von Rotkehlchen, Distel- und Buchfinken, von Rabenvögeln usw.
Nutzung
Mistelpräparate finden vielfach Anwendung in Volksmedizin oder Homöopathie. In Deutschland ist eine Fülle von Mistelzubereitungen, auch in Kombination mit anderen pflanzlichen Extrakten, frei verkäuflich erhältlich. Ob bzw. welche Heilwirkung die Anwendung von Mistelzubereitungen hat, ist unter Wissenschaftlern und Ärzten jedoch sehr umstritten.
Die dekorativen Mistelzweige hängt man längst nicht nur in England gerne zur Weihnachtszeit auf. Und der Kuss unter dem Mistelzweig gehört inzwischen in vielen Ländern zum beliebten Brauch.
Kult: Die Sache mit Miraculix
Beim Stichwort „Mistel“ denken sicherlich viele an den Druiden Miraculix aus den Asterix-Heften. Er pflegte mit einer goldenen Sichel Misteln für seinen Zaubertrank zu schneiden.
Tatsächlich wurde die Mistel von vielen Völkern des Altertums als heilige Pflanze angesehen. Ihr wurden besondere Heilkräfte, aber auch die Abwehr von Blitzschlag, Feuer und bösen Geistern zugeschrieben.
Zum Nach- und Weiterlesen:
Rösler, Markus: „Misteln in Streuobstbeständen“. NABU-Infopapier 2021 (PDF).
Heiter, Kathrin et al.: „Möglichkeiten zum Monitoring von Misteln an Laubbäumen und deren praktischer Einsatz“, in: Jahrbuch der Baumpflege 2020, hg. v. D. Dujesiefken, S. 285–290.
Böhlmann, Dietrich: „Gehölzbiologie“, ²2013, S. 61–63.
Roloff, Andreas: „Bäume in der Stadt“, Stuttgart 2013, S. 234–245.
Wer die berühmte Textstelle über die Mistel schneidenden Druiden in der Naturgeschichte des Plinius nachlesen möchte, kann das z.B. hier tun, inklusive Übersetzung und ausführlicher Kommentierung: https://www.academia.edu/889402/Plinius_und_die_Druiden_%C3%9Cberlegungen_zu_naturalis_historia_16_249_251